Im Gespräch
Natur, Mensch, Gesellschaft
2.11.2021 / Von Klaus Zeyringer
Birgit Birnbacher, Fahim Amir und Kurt Kotrschal bei Transflair

Noch vor Coronazeiten haben wir das Bändchen Gesellschaften im Umgang mit der Natur und anderen Außenseitern mit Beiträgen von Fahim Amir, Anna Weidenholzer, Christoph W. Bauer, Stefan Gmünder, Birgit Birnbacher und Sabine Gruber herausgebracht (Edition Aramo). Dazu planten wir eine Folge der Serie "Transflair", mussten sie jedoch wegen der Pandemie sogar mehrmals verschieben. Nun aber saßen Birgit Birnbacher, Fahim Amir und Kurt Kotrschal auf dem Podium.
Menschen, Gesellschaft und Natur, das war von Anfang an eines der gewichtigen Themen des Erzählens, der Sprachkunst. Die Bandbreite reicht von Ursprungsmythen bis zu Untergangsvisionen. Denken und Literatur vermögen der Umwelt Konturen zu geben und Worte ins Weite, ins Weitere zu führen.

In seinem 2019 erschienenen Buch Mensch. Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen zieht Kotrschal ein klares Resümee: Auf der Erde werden in dreißig Jahren etwa zehn Milliarden Menschen leben; das bedeutet, dass es jene Naturumwelt, in der die Menschen entstanden sind und die bis heute - und vom Menschen bereits stark modifiziert - existiert, kaum mehr geben wird. Kurz: "Wir leben in einer Zeit der Weichenstellungen." Und dazu die Frage, die Kotrschals nächster Publikation (2020 bei Residenz) den Titel gab: Sind wir Menschen noch zu retten?

"Transflair" bot Zugänge aus drei unterschiedlichen Positionen. Aus der Perspektive der Verhaltensbiologie, der Philosophie und der Literatur ging es um die Fragen: Was sagt uns die Evolutionsgeschichte? Bedeutet Biodiversität Widerständigkeit? Können wir dem zerstörerischen Wahnsinn noch entkommen? Und wie kann Literatur davon erzählen?

Birgit Birnbacher hat in Äthiopien in einem Waisenhaus und in Indien gearbeitet, sie ist Soziologin und Sozialarbeiterin. 2019 gewann sie in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis. Drei Jahre zuvor war ihr erster Roman Wir ohne Wal erschienen, zehn Ich-Geschichten junger Leute, ein originelles Personal in latenter Tristesse. 2020 folgte Ich an meiner Seite, wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert, stand auf Platz 1 der ORF-Bestenliste: Der zweiundzwanzigjährige Arthur hat Monate der Gefängnishaft hinter sich und muss erfahren, wie schwierig es ist, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen. Er und einige Personen in seiner Umgebung sind eine eindringlich geschilderte Illustration dessen, was Fahim Amir "das erschöpfte Selbst" nennt.

Fahim Amir, Wiener mit afghanischen Eltern, ist Philosoph und Performance-Künstler, Kurator und anregend aufregender Denker, wie sein Slogan "Esst die Reichen, keine Tierleichen" belegt. 2018 stand sein Band Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte auf der Sachbuchbestenliste der Zeit. Es sind Reflexionen über die gesellschaftspolitische und kulturelle Bedeutung von Tieren - sie seien "lebendige Metaphern". Dass Tiere Teile von Widerstandsformen sein können, analysiert Amir anhand der Schlachthöfe als Labors der industriellen Moderne, am Beispiel neoliberaler Bienen, von Moskitos im Zusammenhang mit der Geschichte des Kapitalismus...

Auf dem "Transflair"-Podium kam er auf das Politische und die Stadttauben: "Mit der Kraft der Taube auf alles scheißen", heißt ein Kapitel seines Buches. Dazu erinnerte Kurt Kotrschal, dass Milan Kundera in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins erzählt, wie es nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nicht nur für Menschen ungemütlich wurde, sondern sogleich Kampagnen gegen Straßenhunde und Tauben begannen.

Kurt Kotrschal war Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle, Mitbegründer des Wolf Science Center, 2010 Wissenschaftler des Jahres, sein Band Wolf - Hund - Mensch wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt. Sind wir Menschen noch zu retten? trägt den sprechenden Untertitel "Gefahren und Chancen unserer Natur. Ein Plädoyer für die liberale Demokratie". Unser Lösungsnotstand, schreibt Kotrschal, wurzle erheblich im Notstand der Selbsterkenntnis. Nur das Wissen um die menschliche Natur erlaube es, eine rationalistische Ideologie durch empirische Einsicht zu ersetzen. Und als Antwort auf die Frage des Titels stehen am Ende des Bandes zwei Zukunftsszenarien zur Auswahl, ein pessimistisches und ein optimistisches.

Alle drei "Transflair"-Gäste haben sich über die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen geäußert. Und da wir den Auftritt im Literaturhaus verschieben mussten, ging es zunächst darum, wie sie die aktuelle Situation analysieren und was das über unsere gesellschaftlichen Beziehungen, unsere Beziehungen zur Natur aussage.
Unser sorgloser Umgang mit Tieren und weil wir mit unserer Vielzahl "fast alle Lebensräume dieser Erde durchdrungen haben, sodass nur noch fünf Prozent aller Lebewesen Wildtiere sind", bedeute laut Kotrschal: "Wir fahren nicht gegen die Wand; wir sind schon längst gegen die Wand gefahren." Dieser Umgang beschere uns in immer kürzeren Abständen Serien von Infektionskrankheiten und Pandemien. "Ich denke nicht, dass wir dieses Virus loswerden. Nach der Pandemie ist mit Sicherheit vor der Pandemie. Was wir vorher für den Normalzustand hielten, wird nie wiederkommen." Das sage er als Biologe, nicht als Kassandra. Und, fügte Kurt Kotrschal hinzu, die Pandemie habe die Bruchlinien der Gesellschaft sehr klar offenbart. Immerhin sei "man als Wissenschaftler privilegiert, in dieser Zeit zu leben, da solche Entwicklungen in so kurzer Zeit in der Menschheitsgeschichte zuvor kaum je passiert sind und wir das Privileg haben, sie jeden Tag nahezu in Echtzeit in unsere Wohnzimmer geliefert zu bekommen".

"Wir leben in den interessantesten Zeiten der Menschheitsgeschichte, aber das haben vermutlich die Leute vor uns auch gedacht", sagte Kotrschal.
Darauf Fahim Amir: "Mögest du in aufregenden und interessanten Zeiten leben", das sei im Chinesischen ein Fluch. Die Pandemie zwinge uns, unser Denken und unser Vokabular an die Situation anzupassen, und erschreckend sei die Armut an neuen Ideen. Man müsse etwa den Begriff der Rache neu denken - Corona sei "die Rache des Schuppentieres", das geschafft habe, woran Gewerkschaften seit Jahrhunderten scheitern: die Profitmaschine lahmzulegen. Amir verwies auf eine der einflussreichsten Texte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wie ist es eine Fledermaus zu sein? des US-amerikanischen Philosophen Thomas Nagel. "Und am Ende kommt raus: keine Ahnung, wir werden es nie wissen". Die Pandemie habe jedenfalls gezeigt, dass alle lebenden Körper, auch auf gefährliche Weise, miteinander verbunden seien. Es sei kein Zufall, dass "die Beschleunigung dieser pandemischen Situation auch Daten kennt, die im Zusammenhang mit der Liberalisierung der Märkte stehen."

Als Fledermaus leben

Wie es ist, als Fledermaus zu leben - da sind wir auf dem Gebiet der Literatur. Ein Roman vermag ja zu beschreiben, wie es ist, als Katze zu leben. Ob die Pandemie-Situation für Schriftstellerinnen und ihre Literatur eine besondere Bedeutung habe?
Sie "hat eine Bedeutung für uns alle", sagte Birgit Birnbacher, "gleich in welcher Funktion wir uns das Geschehen anschauen." Was sie in dieser Situation am meisten interessiere, sei natürlich die Sprache, etwa jene eines "rohen Bürgertums", das von "sozialer Hängematte" rede. Vieles werde nicht weiter hinterfragt, mitunter basiere die Kommunikation, auch der Regierung, auf Lügen, aber es fehle "uns gemeinsam das Reflexionsvermögen darüber, was das alles jetzt mit uns macht". Interessant sei die kognitive Dissonanz wie in der Frage des Klimawandels: "Wir wissen alle, was mit uns passiert, handeln aber nicht danach. Wir handeln die Themen schnell in Überschriften ab, und alles gerät in Vergessenheit, wenn das nächste Thema kommt."
Darauf Fahim Amir: "Apropos Sprache. Am wenigsten habe ich die ewige Rede vom Babyelefanten ausgehalten. Es gibt gar keinen Babyelefanten, es gibt nur Elefantenbabies."

In den Medien, sagte Kurz Kotrschal, sei es zu achtzig Prozent um Corona gegangen: "Wir haben eine Verengung unseres Horizonts erfahren und leben in einer unglaublichen Trivialisierung von Sprache." Und "zur Ehrenrettung der Viren" erklärte er, dass unser menschliches Genom zu keinem geringen Teil aus integrierten Virengenomen bestehe und "unsere eigene Evolution als Säugetiere einiges damit gemacht hat". Zum Beispiel sei der Sprung zur Entwicklung einer echten Gebärmutter ohne integriertes Virusgenom nicht möglich gewesen.

Seine Sicht von der Natur des Menschen "nach neuer Facon" findet man in seinen beiden zuletzt publizierten Bänden und dazu eine Antwort auf die Frage, "welche gesellschaftspolitischen Systeme sind uns angemessen". Man könne, sagte er, von alten ideologischen Vorstellungen weggehen, sich auf die Natur des Menschen berufen und damit begründen, warum liberale Demokratie die einzige Form des Zusammenlebens sei, die die Chance gebe, "die Menschen einigermaßen zufrieden zu machen und die Lösungskapazität der Menschen zu nützen. Tun wir das nicht, sind wir verloren."
Dem hielt Fahim Amir entgegen, all diese liberalen Demokratien hätten "alles zusammengebombt, was es in Afghanistan an Demokratie überhaupt gibt."
"Die liberalen Demokratien?", fragte Kurt Kotrschal.
"Da steht eben die Frage, wer das ist."

Amir betonte, das Verhältnis von Natur und dem Politischen habe Konjunkturen und helfe uns zu erkennen, wer wir sind. Philosophisch führte er es von Hobbes bis Benjamin vor, um dann auf ein Beispiel in Biologie und Ethnographie zu kommen: die Termiten.
Die abendländische Philosophie habe seit zwei- bis dreitausend Jahren nichts anderes gemacht, als den Menschen als Geisteswesen zu etablieren, antwortete Kotrschal.
Aber die Selbstüberhöhung der Menschen lasse uns übersehen, "dass wir in Kontinuität mit der gesamten Evolution stehen. Darum können wir mit anderen Tieren." Außerdem: "Die Natur ist ja ein Konstrukt."
Wenig mit der Natur zu tun hat die Frau in Birgit Birnbachers Text im Bändchen Gesellschaften im Umgang mit der Natur und anderen Außenseitern. Es ist schließlich nicht mehr, als im Alter auf eine Baumkrone zu blicken und in die Einsamkeit der eigenen Natur zurückgeworfen zu sein. Birnbacher sagte, sie finde es spannend, wie schwer sich viele Menschen mit dem Zugang zur Natur tun, "ich auch". Woher dieser Abstand komme, habe sie sich gefragt und festgestellt, dass die Natur uns andauernd "auf sehr brutale Weise die eigene Endlichkeit" ins Gemüt liefere.

Und schildert nicht ihr Roman Ich an meiner Seite, was eine liberale Demokratie mit Menschen macht?
"Das Aufzeigen von Missständen" interessiere sie wenig, betonte Birnbacher, sondern ihr gehe es viel mehr um gesellschaftliche Mechanismen, etwa was die neoliberale Strömung mit dem Individuum macht. Ihr Buch beschreibe einen Menschen, "der - wie viele von uns - sein Milieu gewechselt hat. Literatur bietet ja noch einen schönen Platz dafür, wo man noch eine ganze Lebensgeschichte in allen Schattierungen ausleuchten kann."