Im Gespräch
Feierliche Verleihung des Donaustipendiums 2015
25. 9. 2015 / Laudatio von Robert Menasse
Dubravka Ugrešić, im ehemaligen Jugoslawien geboren, Autorin von u.a. Američki fikcionar (My American Fictionary) und Kultura laži (Die Kultur der Lüge), die in fast alle europäischen Sprachen übersetzt wurden, erhielt im September 2015 das Donaustipendium. Anlässlich der feierlichen Verleihung hielt ROBERT MENASSE eine Laudatio auf die Autorin:
Die Kunst der Notwehr, die Notwehr der Kunst
Sehr geehrte Damen und Herren,
Es ist schwer über Dubravka Ugrešić' Werk eine klassische Laudatio zu schreiben. Denn alle rhetorischen Figuren des literarischen Lobs und der Anerkennung werden augenblicklich schal, auf eine geradezu widerwärtige Weise schal, wenn wir über ein Werk sprechen, das in existentieller Notwendigkeit entsteht und glückt, ein Werk, das nicht nur allfälligen Kriterien der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft auf das Schönste genügt, sondern dem größten menschlichen Kriterium: nämlich die menschliche Selbstbehauptung zu retten in Zeiten massenhafter Enthauptungen - wobei wir den Begriff "Enthauptung" weitestgehend metaphorisch, aber leider auch buchstäblich verstehen müssen. Ja, Dubravka Ugresic hat interessante Stoffe, ein analytisches Denken, eine präzise und elegante Sprache. Das sind Kriterien, über die sich Hierarchien im Literaturbetrieb und Erfolge auf dem Buchmarkt herstellen, oder auch nicht. Auf jeden Fall hält Dubravka Ugrešić allen Ansprüchen der Literaturkritik stand. Aber das sagt noch lange nichts aus über die erwähnte existentielle Notwendigkeit einer Literatur in einer konkreten gesellschaftlichen und politischen Situation - die klarer definiert werden kann als die Kriterien des Literaturbetriebs mit ihren ritualisierten Formen von Lob und Kritik. Und deshalb wäre es so unbefriedigend, schal und phrasenhaft, wenn man die literarischen Qualitäten Dubravka Ugrešić' vorführte, man muss, wenn man über ihre literarischen Anstrengungen spricht, ihr Schreiben ganz anders benennen, denn wesentlich hält sie mit ihrem Schreiben und mit all ihren künstlerischen Möglichkeiten einem Krieg stand.
Wenn wir über Dubravka Ugrešić' Schreiben reden, dann reden wir über Schreiben im Krieg. Der Krieg und seine Folgen ist nicht Thema ihrer Literatur, er ist ihre Literatur. Und auch wenn es Literatur ist - wie kann man mit literaturkritischen Mitteln Notwehr loben?
Wir reden über Kunst, ja, aber wir reden über die Kunst der Notwehr und die Notwehr der Kunst, wir reden über die Kunst der Verteidigung, über die Kunst des intellektuellen Widerstands, über die Kunst der geistigen Offensive, über die Kunst des emotionalen Überlebens, und über das Überleben der Kunst im Krieg. Wir reden über einen Sanitätereinsatz der Literatur in einem Krieg gegen die menschliche Vernunft.
Täuschen Sie sich nicht. Ich meine, wenn ich im Zusammenhang mit Dubravka Ugrešić von Krieg rede, nicht (nur) den Jugoslawischen Bürgerkrieg, das war bloß eine Schlacht in dem großen fortdauernden Krieg, in dem auch Sie sich, in dem wir alle uns befinden, als Täter oder Mitläufer, Ignoranten oder Kiebitze, heute, auch hier, und ich fürchte: auf noch lange Zeit. Es ist der militärisch, ökonomisch und politisch geführte Krieg von Profiteuren des Unrechts gegen das Menschenrecht, es ist der mit Hilfe historischer Mythologen geführte Krieg gegen die historische Sehnsucht nach einer menschengerechten Welt. Es ist ein Krieg, den wir vergessen haben, ignorieren wollten, und der jetzt heiß wurde.
Dubravka erzählte mir einmal folgende Geschichte: sie muss etwa 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein, fiel bereits durch große Leselust und Wissbegierde auf, was ihre Mutter sehr unterstützte und förderte. Als ihr Vater einmal fragte: "Muss sie immer so viel lesen? Warum läuft sie nicht mit der Schar?", sagte die Mutter zur Verteidigung: "Was sie im Kopf hat, kann ihr keiner mehr wegnehmen!" Darauf sagte Dubravka: "Ich habe gelesen, dass in der Geschichte immer wieder Köpfe, in denen viel drinnen war, abgeschlagen wurden!"
Wer hat nun, in Hinblick auf das Lebensglück des Kindes, Recht gehabt? Der Vater oder die Mutter?
In dieser dialektischen Anekdote sehen Sie jedenfalls Dubravka Ugrešić' Wesen bereits angelegt. Und doch: Es hätte alles ganz anders kommen können.
Es gibt nämlich eine Vorkriegs-Dubravka Ugrešić. Sie studierte Literaturwissenschaften und Philosophie an der Universität Zagreb, wo sie, die hochtalentierte Studentin, schließlich am Institut für Literaturtheorie eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin bekam. Sie spezialisierte sich bald auf experimentelle Literatur, beschäftigte sich vor allem mit der russischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre, die sie auch ins Kroatische übersetzte, und begann zugleich mit eigenen literarischen Arbeiten, die charakterisiert waren durch fröhliches Experimentieren mit verschiedenen literarischen Gattungen, Stilmitteln, Techniken und Sprachmasken.
Ich glaube, dass Dubravka damals eine glückliche Frau war, sie hatte ein ausgeprägtes literarisches Interesse, lebte dafür und konnte davon leben. Sie bekam Anerkennung, denn sie war hochqualifiziert, analytisch und kreativ. Ihr stand eine akademische Karriere genauso wie Ruhm im literarischen Leben offen. Hätte es dann nicht den Bruch in ihrem Leben gegeben, sie hätte aller Voraussicht nach heute ein Werk, das Anlass zu den schönsten Laudationen durch Literaturprofessoren und Literaturkritiker gäbe. Und sie hätte alles bekommen, was man sich als junger, genialischer Mensch in solch einer Situation, unter solchen Voraussetzungen wünscht oder insgeheim erwartet: den Staatspreis, ein Verdienstkreuz ihrer Heimat-Stadt, eine Professur, Mitgliedschaft in der nationalen Sektion des PEN, Ansehen im Betrieb, Freundschaften mit anderen Autorinnen und Autoren, kindische kleine Giftpfeile von wieder anderen Autoren und lächerliche Eifersüchteleien, die sie wegwischt, Übersetzungen in andere Sprachen, Einladungen zu internationalen Symposien und Schriftstellerkongressen. Sie hätte fröhlich weiter experimentiert, das Serbokroatische erneuert oder bereichert, Preise und wieder eine schöne Laudatio bekommen, von Männern und Frauen, die sich darauf verstehen.
Doch dann kam der Krieg. Zunächst der Vorkrieg. Doch der ist Teil des Krieges. Krieg beginnt mit der systematischen Vorbereitung des Krieges, und seit Beginn der Moderne heißt Vorbereitung des Kriegs im Wesentlichen Schüren von Nationalismus. "Jugoslawien zerfiel", wie es hieß, welch blöder Euphemismus für das Verbrechen, dass Jugoslawien zerschlagen wurde, von innen und auch von außen. Ja, auch von außen: denn ein Krieg braucht nicht nur Feinde, er braucht auch Verbündete. Eine unrühmliche Rolle spielte dabei - und das muss man hier, an diesem Ort und in diesem Land sagen - nicht nur der deutsche Außenminister, sondern auch der österreichische, das waren, wenn Sie sich zu erinnern bequemen, die Herren Genscher und Mock. Es gibt in jedem Fall sehr viele verschiedene Auslöser für einen Krieg, aber es gibt nur einen einzigen Grund für Krieg: dass jemand den Krieg will. Warum, das ist schon wieder eine sehr komplexe Frage, die erfahrungsgemäß Generationen von Historikern beschäftigt, aber es steht außer Frage, dass dieser Krieg gewünscht wurde, und zwar - das ist meine These - weil der Nationalismus als historisches Erbe etwas ist, das immer weitergärt, solange wir die Nationen nicht endgültig überwunden haben, und er gärt immer weiter, weil Nationen sich nur durch Abgrenzung von anderen Nationen definieren können, und jede Nation Wut im Bauch hat, weil jede Nation irgendwann einmal von einer anderen gedemütigt wurde. Die Entwicklung zu einer nachnationalen Welt hat längst begonnen, so gut wie alles, womit wir irgendwie unser Leben produzieren, ist befreit aus den Käfigen nationaler Grenzen: die Wertschöpfung, die Finanzströme, die Kommunikation, auch die Umwelt hört nicht an nationalen Grenzen auf, und auch die Gefahren und Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, können nur noch supranational gelöst oder zumindest irgendwie reguliert werden - aber so lange es doch noch Nationen gibt, realpolitisch oder als realpolitisch wirksame Idee, muss sie in diesen Todeskampf eintreten: entweder stirbt der Nationalismus im Licht der Aufklärung, oder das Licht wird abgedreht und der Nationalismus lässt sterben und tötet.
Es gab beim so genannten "Zerfall Jugoslawiens" keinen Grund, diesen Zerfall zu fördern und politisch diesen Bürgerkrieg zu provozieren. Im Gegenteil: Europa war durch die EU längst in eine bewusste nachnationale Entwicklung eingetreten, nicht zuletzt als Konsequenz aus den historischen Erfahrungen mit den Verbrechen des Nationalismus - welchen Sinn hatte also die Politik der Europäer Genscher und Mock, die den Zerfall Jugoslawiens in kleine Nationalstaaten unterstützte? War der liberale Genscher als Deutscher im Innersten so deutsch, dass er nicht vergessen konnte, dass die Serben die erbittertsten Widerstandskämpfer gegen die deutsche NS-Wehrmacht waren, die Ustascha-Faschisten Kroatiens aber die deutschen Verbündeten? War seine Politik der unverhohlenen Unterstützung der kroatischen Nationalisten historischer Revanchismus? War der Österreicher Mock, ebenso sehr Mentalitäts-Alt-Österreicher wie ideologischer Erbe des katholischen Ständestaats, getrieben von einem vielleicht unbewussten, aber deutlich in seinem Herzen pochenden altösterreichischen "Serbien muss sterbien", zugleich von einer spontanen "Solidarität" mit einem Kroatien, das er mit der katholischen Ustascha assoziierte? Hat Mock Genugtuung empfunden, als das schöne, polyglotte, multikulturelle Sarajewo, Kulturhauptstadt und erst kurz davor Ausrichter der völkerverbindenden olympischen Spiele, in Schutt und Asche gebombt wurde, und in unermesslichem menschlichen Leid, in Tod und Verwesung Bilder für die Presse lieferte, die er in seinem österreichischen Amt auf den Schreibtisch bekam, Sarajewo - die Stadt, in der österreichische Thronfolger ermordet worden war... Was hat er empfunden?
Ich weiß es nicht und vielleicht bin ich ungerecht. Ich kann in die Seelen dieser sogenannten Verantwortungsträger nicht hineinschauen, ich kann zu meiner Entschuldigung nur sagen: es ist überprüfbar, was sie mit angerichtet haben. Und das steht fest: Die von Mock und Genscher abgegebene Garantie, dass Slowenien und Kroatien, sollten sie sich abspalten, sofort als souveräne Nationen anerkennt werden würden, war ein "Hoppauf", ein Anfeuerungsruf, diesen Krieg zu provozieren.
Der Krieg. Ein Krieg, in dem dann sogar der Deutsche Grüne Joschka Fischer dafür plädierte - und es auch durchsetzte -, dass die europäische Stadt Belgrad, die ehemalige Hauptstadt Jugoslawiens mit Unterstützung Deutschlands bombardiert wird.
Der Krieg ist der radikalste empirische Nachweis für den Satz, dass es der Menschheit anheim fiel, die Unmenschlichkeit auf die Welt zu bringen. Aber für die Menschlichkeit ist schon der Vorkrieg eine Art Lackmustest. Wenn Massen Hurra schreien - wer bleibt ein Individuum? Wenn kollektive Verblendung regiert, wer hat die Kraft, ihr zu widerstehen - auch wenn es alles kostet: Ruf, Amt, Auskommen, Anerkennung, sozialen Rückhalt? Ich möchte diese Frage hier nicht jedem einzelnen stellen, der Begriff Held hätte keinen Sinn, wenn jeder einer wäre. Aber ich bitte Sie, sich diese Frage in einer ruhigen Minute selbst zu stellen.
Dubravka Ugrešić arbeitete damals, wie gesagt, an der Universität Zagreb. Ich kannte sie zu dieser Zeit noch nicht. Aber ich kannte einen Mann, der Germanist an dieser Universität war, Professor Viktor Zmegac. Seine unorthodoxe, undogmatische, aber doch mit den Standards eines sozialistischen Landes kompatible "Marxistische Literaturtheorie" hatte ihn in den 70er Jahren in ganz Europa berühmt gemacht, sein Buch wurde in Arbeitskreisen und Seminaren natürlich auch in Wien diskutiert - er war im damaligen Zeitgeist bedeutender und mehr diskutiert als die andere damals neue Ikone der Germanistik, Claudio Magris. Bei einem Vortrag, den er in Wien hielt, lernte ich ihn kennen, ich war geschmeichelt, dass er an mir Interesse hatte, dass er meine ersten Essays kannte und als "brillant" bezeichnete. Wir blieben in Kontakt, korrespondierten, trafen uns wieder bei einem Symposium in Klagenfurt, wir diskutierten die halbe Nacht, ich muss gestehen: ich habe diesen feinsinnigen, kultivierten Mann mit seiner messerscharfen dialektischen Intelligenz bewundert.
Vorkrieg. Wenn Viktor Zmegac laut und deutlich Nein gesagt hätte, dieses Nein hätte an der Universität Zagreb Wirkung und in ganz Europa Echo gehabt. Aber es war unglaublich, es machte mich fassungslos: mit einer unglaublichen neurotischen Energie arbeitete Zmegac seine "Marxistische Literaturtheorie" in kürzester Zeit zu einer Theorie der Nationalliteratur um, mit einer perfiden Intelligenz im Gestus humanistischer Bildung, die allerdings nichts mit Humanismus zu tun hatte, weil sie nicht human war, sondern eine Ideologie legitimierte, die nun herrschte und sich als entmenscht erweisen sollte.
Schweife ich ab? Alles, was ich da sage, hat doch nichts mit einer Laudatio auf das Werk einer Schriftstellerin zu tun. Ja, Sie haben Recht. Was ich sagen wollte: Professor Zmegac konnte seinen Lehrstuhl an der Universität Zagreb retten.
Dubravka Ugrešić, die an der selben Universität arbeitete, kurz vor ihrer Beförderung stand und zugleich ihren ersten großen literarischen Preis erhalten hatte (für ihren Roman "Der goldene Finger", eine Satire auf den Literaturbetrieb und die Mentalitätsunterschiede zwischen "West-" und "Ost-Autoren"), musste gehen. Dubravka Ugrešić hatte Nein gesagt, Nein zu Nationalismus, Nein zum so genannten Unabhängigkeitskrieg, Nein zu Verblendung und kollektiver Hysterie. Sie hat die Größe und die Kraft aufgebracht, die ich damals von Professor Viktor Zmegac erwartet habe, dem dies doch im Schutze seines Ruhms leichter gefallen wäre, abgesehen davon, dass ein Nein von Zmegac unmittelbar mehr Wirkung gehabt hätte, als das Nein der talentierten jungen Autorin.
Dubravka Ugrešić wurde auf eine Weise gemobbt, bedroht und verfolgt, ihr wurde nachgerade ein Hexenprozess gemacht, so dass sie schließlich gezwungen war, ihre Stadt und das Land, diese Plötzlich-Nation, zu verlassen.
Und damit ist etwas Eigentümliches passiert: Dubravkas Katastrophe wurde zu unserem Glück. Aus der fröhlich formal experimentierenden jungen Autorin und Akademikerin, der eine Karriere im Literaturbetrieb vorgezeichnet war, wurde gezwungenermaßen die Autorin von einer Relevanz, die weit über die Fragen literaturtheoretischer, ästhetischer, formaler und akademischer Natur hinausreicht, ohne dass sie deren Qualitätsansprüche aufgegeben hätte, die sie auf Grund ihres "Vorlebens" intus hatte. Eine Relevanz, die weit hinausreicht über lokale Bedeutung. Dubravka Ugrešić ist durch den Krieg von den formalen Spielereien mit der Avantgarde der 30er Jahre in eine radikale Zeitgenossenschaft geschleudert worden, die sie, mit allen literarischen Mitteln und mit größter Konsequenz, reflektiert.
"Ich bin Zigeunerin, ich bin ein fliegender Holländer", schrieb Dubravka Ugrešić, die in den Niederlanden Exil fand, "Ich bin eine Obdachlose, Heimatlose, Exilantin, ein Flüchtling, ein Nomade, alles auf einmal, eine Person mit dem Pass einer neuen kleinen Nation, in der ich nicht leben kann und darf (...) Ich beiße auf Staub, fühle keine Müdigkeit, wie hypnotisiert starre ich auf Etwas, das einmal Zuhause hieß, und suche Antwort auf die Frage: Wie war es möglich?"
Ich lernte Dubravka im Jahr 1994 in Berlin kennen, ich hatte ein Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, ein Jahr Berlin, und meine Nachbarin war eben Dubravka, die ebenfalls dieses Stipendium hatte und im selben Haus untergebracht war. Ich lernte sie im Stiegenhaus kennen, sie stellte sich vor, sagte ihren Namen, und ich musste einen leicht überforderten und verwirrten Eindruck gemacht haben, als mich im Stiegenhaus eine Frau ansprach, mit den mir zunächst völlig rätselhaften Worten: "I'm Dubravka Ugrešić!", weshalb sie, um mir das Leben zu erleichtern, mit einer wunderbaren rauchigen Stimme (leider hat sie mittlerweile aufgehört zu rauchen, was zwar nicht ihre Literatur, aber ihre Stimme sanfter gemacht hat) zu mir sagte: "Call me Dubra, Baby!" Jetzt dachte ich, sie heiße "Dubra-Baby", aber mit "Baby" war ich gemeint, und das hatte seine Richtigkeit: denn ich habe dann, in den Gesprächen mit ihr, sehr viel gelernt, was mein erwachsenes Denken beförderte. Das war der Beginn einer großen Freundschaft, die sich dann in Amsterdam fortsetzte, wo sie, wie gesagt, Asyl bekam und auch ich einige Zeit lebte.
Aber damals in Berlin, im Jahr 1994, entstand eine Freundschaft im Brennpunkt historischer Ereignisse, die unser Leben schließlich auf völlig neue Gleise stellen sollten. Nächtelange Diskussionen, mit Wein und überquellenden Aschenbechern. Ich werde ewig Wehmut und Glück empfinden, im Gedanken an diese Zeit. So kurz nach dem Mauerfall. Was wird die euphorische und damals bereits ansatzweise problematisierte nationale Wiedergeburt Deutschlands für Europa bedeuten? Warum vereinigt sich Deutschland und unterstützt zugleich die Zerschlagung Jugoslawiens? Der Kroatienkrieg war noch in vollem Gange, die Medien unterstützten die kroatischen Nationalisten in ihrem so genannten "berechtigten Kampf um nationale Selbstbestimmung", während zugleich in Österreich eine hitzige Diskussion über den EU-Beitritt geführt wurde, im Juni 94 gab es die EU-Volksabstimmung in Österreich, bei der fast zwei Drittel für den Transfer nationaler Souveränität an die supranationalen Institutionen in Brüssel stimmten. Dubra sagte, dass sie davon irritiert wäre, dass das Hauptargument für die große Zustimmung bei der österreichischen Volksbefragung der Satz "Gut für Österreich!" gewesen sei - die Menschen stimmten mit einem nationalistischen Argument dem Eintritt in eine nachnationale Union zu. Die EU wurde den Beitrittskandidaten nicht als das vermittelt, was sie im Geiste der Gründergeneration sein sollte, nämlich ein politisches Projekt zur Überwindung des Nationalismus, sondern wurde verkauft als das Gegenteil: als ein Bündnis zum Schutz nationalen Wohlstands und, ja, nationaler Selbstgerechtigkeit. Verkauft und verraten. Was wird passieren, wenn dieser Widerspruch aufbricht? Und warum hat man andererseits nicht mit Jugoslawien einen Beitritt zur EU verhandelt (es gab nach Titos Tod dieses historische Zeitfenster)? Jugoslawien war, so lange es noch existierte, in seinem Selbstverständnis keine Nation, sondern ein mehrsprachiger, multikultureller Staat, also viel kompatibler mit der Grundidee des europäischen Projekts. Warum musste dieser Staat in viele kleine Nationen zerschlagen werden, um dann erst nach und nach diese, im Grunde failed nations, in die nachnationale Union aufzunehmen?
Das waren spannende Debatten, aber ich muss gestehen, dass mir damals noch nicht wirklich klar, welch universale Bedeutung sie hatten - Debatten, die sich für Dubravka ableiteten von den Erfahrungen mit Krieg, Flucht, Asyl und Exil. Und nachdrücklich zeigten die Gespräche mit Dubravka: es ist und bleibt die Voraussetzung des Schöpferischen, Verdacht zu schöpfen.
Habe ich gesagt, was WIRD passieren, wenn der Widerspruch aufbricht? Es passiert bereits, wir sehen es täglich im Fernsehen, wo nichts mehr fern ist, wir lesen es in den Zeitungen. Der heiße Krieg, der Flüchtlinge produziert, Menschen, die Asyl suchen, und der kalte Krieg, gegen die Flüchtlinge, und gegen das Friedensprojekt EU, der Krieg der Nationen, die ihre Grenzen zurückhaben wollen, mörderisch infantile Grenzzäune, und ihre so vorgebliche wie vergebliche Souveränität, es ist der Krieg der reichen waffenproduzierenden Länder gegen die armen Opfer dieser Waffen, es ist der Krieg betrogener Menschen gegen die Universalität der Menschenrechte, es ist der Krieg einer Zivilisation, die vermodernde Folklore für nationale Identität, ihren Kulturverlust für ihre autochthone Kultur hält, eine Zivilisation, die wiederholt, was Stefan Zweig schon im Jahr 1914 diagnostiziert hat: "Die europäische Zivilisation wird durch den Nationalismus zerstört."
Das ist unsere Zeitgenossenschaft.
Und auch wenn es wie eine Tautologie klingt, wenn ich eine lebende Autorin als zeitgenössische Autorin bezeichne, es ist leider keine, es ist vielmehr eine Auszeichnung und Ausdruck meiner Bewunderung: Dubravka Ugrešić ist eine zeitgenössische Autorin - avant la lettre.
Als Dubravka den Europäischen Essay-Preis "Charles Veillon" erhielt, hat Ilma Rakusa in ihrer Laudatio zu Recht genau darauf hingewiesen: ihr Widerstand, ihr Nein zum Nationalismus, ihre Erfahrungen als Flüchtling und Exilantin, haben aus der souveränen Autorin vertrackter postmoderner Experimente, Satiren und Genre-Texten erst eine große zeitgenössische Autorin gemacht.
Ich weiß, dass Dubravka Ugrešić nicht eine Sekunde mit dem Gedanken gespielt hat, sich zu verstellen, sich anzupassen, um ihre Existenz und ihre Lebenschancen in Zagreb zu retten. Überleben hieß für sie: Überleben des eigenen Gewissens.
Nun ist politisch engagierte Literatur bzw. Protestliteratur letztlich auch nur ein eigenes Genre. Aber die Genre-Grenzen des Kritischen durchbrach Dubravka Ugrešić durch Selbstkritik und offenes Thematisieren der literarischen Ohnmacht. Sie hinterfragte die Gefahr, dass "das Schreiben gegen den Krieg sofort auch zur Pornographie des Unglücks (wird)", sie thematisierte die Naivität von Protest und die mögliche Blindheit von Wut. Aber ohne ihre Wut zu verlieren, sondern - und das macht sie so groß - mit der breiten Palette der existentiellen Betroffenheit, mit Wut, Empörung, Zorn, Melancholie, Depression, Trauer, Verachtung, Skepsis, Bitterkeit, Sarkasmus, Galgenhumor und Ironie, Witz, Schalk, Klage und Anklage die ebenso breite Palette ihrer literarischen Möglichkeiten aufzuladen: Erzählung, Essay, Anekdote, Erinnerung, Reflexion, Montage, Monolog, Dialog, Polemik, Analyse, Recherche, detailreiche Geschichten - was sie beherrscht, mit aller Wucht der Emotionen, ist das reflektierte Selbstgespräch eines Menschen mit vielen Stimmen, im Angesicht eines historischen Unheils, auf dessen Schleier und Ornamente die anderen blicken. Damit (ich erwähne hier als Beispiel ihre Bände "Die Kultur der Lüge" und "Karaokekultur") wurde sie zu einer der bedeutendsten Vertreterinnen der literarischen Anstrengung, die der große ungarische Autor György Konrad "antipolitische Literatur" nannte. Politische Literatur bekämpft mit einer Ideologie eine andere. Antipolitische Literatur dekonstruiert Ideologien, sie spricht als Opfer von Ideologien mit dem vorbildlichen Anspruch, kein Opfer sein zu wollen. Das ist ein weites Feld, auf dem es eine sehr nahe Grenze gibt: die Grenze zu der völlig infantilen Ideologie der Ideologielosigkeit. Und das ist die einzige Grenze, die diese Literatur nicht durchbrechen will.
Dubravka Ugrešić wird heute mit dem "Donau-Stipendium" ausgezeichnet, das auch einen Aufenthalt in Österreich und in Ungarn miteinschließt, im Österreich der Strache-Hysterie und, besonders pikant, im Ungarn des Orban-Zynismus, in einem Land, das heute wieder Grenzen dicht macht, sich aus dem europäischen Prozess abkoppelt und sein Heil in forciertem Nationalismus sucht. Dubravka, Flüchtling und Exilantin, wird - dank dieses Stipendiums - keinen Zaun überwinden müssen. Aber sie bringt in ihrem Kopf eine Konterbande mit: "Am Krieg sind Menschen schuld, machtgierige Führer, einheimische und ausländische politische Dilettanten und politische Manipulatoren, das manipulierte Volk, Mörder, Kriminelle und ihre Gefolgsleute. Die nationale Identität ist in alldem die wichtigste Begründung und die Lunte, der Grundirrtum und das Fiasko."
Gerade in dieser Zeit brauchen wir diese zeitgenössische Autorin. Und deshalb sage ich zu Ihnen, zu jedem einzelnen von Ihnen: Lies' Dubra, Baby!
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