Im Gespräch
Fortuna Fortuna
25. 1. 2018 / Von Klaus Zeyringer
Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg und Franz Schuh bei Transflair über das Glück, die Hoffnung, Gott und andere Tröstlichkeiten

Zu dieser 62. Folge von Transflair war der Andrang groß. Zuletzt, an den vorigen Abenden der Serie, machten es die Themen nicht leicht, dem Publikum außer der Literatur Tröstliches auf den Heimweg mitzugeben: Es war um Krieg in Nahost und um Islamisten, um Politik in Österreich und um den Überwachungsstaat, um Flucht und Tote im Mittelmeer gegangen. Nun aber standen Glück und andere Hoffnungen auf dem Programm, beleuchtet aus einer theologisch-religiösen und aus einer philosophisch-literarischen Sicht. In sehr gewitzter Weise sprachen auf dem Podium Paul Chaim Eisenberg und Franz Schuh miteinander, das spirituelle Oberhaupt der Juden Österreichs und des Landes renommiertester "Denksteller".

Eisenberg hatte zunächst in Wien Mathematik und Statistik studiert; es habe ihn jedoch plötzlich nicht mehr interessiert: "zu viele Zahlen, zu wenig Menschen". Also ging er nach Jerusalem, wurde Rabbiner und schließlich wie sein Vater (den Thomas Bernhard am Ende des Romans Auslöschung zu einer literarischen Figur machte) Oberrabbiner, bekannt für seine Dialogbereitschaft, seine erzählerische und gesangliche Begabung. Mit dem ORF hat er eine CD aufgenommen, die Erlebnisse eines Rabbiners hat er 2006 als Buch vorgelegt, 2017 folgte Auf das Leben! Witz und Weisheit eines Oberrabbiners. Es sind humorvolle Geschichten voller Esprit und zugleich eine kleine Einführung ins Judentum. Der Rabbiner, präzisiert er, "muss die Regeln kennen und der Oberrabbiner auch die Ausnahmen".

Der Mensch, eine wandelnde Grauzone

Bei Franz Schuh, dem Meister gewitzter Sprachkunst, steuert die Erzählung ins Philosophische, tendiert die Philosophie zur Erzählung, vom Anekdotischen verlaufen Wege ins Metaphysische und umgekehrt. Es sei sein "Hauptwerk, das aus lauter Nebensachen besteht", schreibt er, seinem dialektischen Vorgehen entsprechend, 2006 in Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche. Und 2011 in Der Krückenkaktus: Moralisch sei der Mensch eine wandelnde Grauzone – womit er auf eine, anders ausgedrückte, Eisenbergsche Einschätzung trifft. Seine Denkanstöße sind regelmäßig im ORF zu erleben, zuletzt hat seine Suche nach Erkenntnis das Buch Fortuna. Aus dem Magazin des Glücks hervorgebracht. Hier heißt es zu Beginn: Es zeige sich, "wie im Wort ‚Glück’ vieles von dem ineinanderfließt, was man von der menschlichen Existenz wissen kann."

Es gebe allerhand Versuche, die menschliche Existenz zu dogmatisieren, sagt Franz Schuh auf dem Transflair-Podium. Das Glück, das man bekanntlich nicht festhalten könne, habe eine merkwürdige Zwischenstellung zwischen dem Zufallsglück und der Eudämonie, "wo das Glück das Resultat des sogenannten ‚guten Lebens’ ist." Es gebe Philosophen, die nicht zu Unrecht das Wort "Glück" fliehen: Es gehe gar nicht ums Glück, das der Mensch leicht fetischisiere, es gehe vielmehr darum, einen Sinn im Leben zu haben. Es sei ja eine "überlegene Einstellung gegenüber dem Generellen, wenn der Oberrabbiner die Ausnahmen kennt und die Regeln – das ist es eigentlich, warum es in der Reflexion der menschlichen Existenz seit Plato geht: Dass man die Regeln kennt, aber nicht von den Regeln verblendet ist, sondern in der Lage ist, auch die Ausnahmen zu kennen."

Gott: "Er gibt mir keine Chance"

Im Judentum gebe es eben die beiden von Schuh genannten Arten des Glücks, sagt Eisenberg. Das Zufallsglück illustriert er mit einer Geschichte. Ein frommer Mann betet jeden Morgen zu Gott um einen Lotteriegewinn, ohne Erfolg. Da fragen die Engel den Ewigen, warum er diesen so frommen Mann nicht gewinnen lasse. Darauf Gott: "Er gibt mir keine Chance, er kauft kein Los."

Das sei freilich eines der Konzepte, gegen die er skeptisch sei, erwidert Schuh: Die Behauptung, dass man für sein eigenes Glück was tun könne, führe zu den Ideologien der Selbstoptimierung. Das Interessante am Zufallsglück sei "die nicht seltene Brutalität, mit der es auftritt. In der Geschichte der Lottogewinner kennt man eine Unsumme ruinierter Existenzen. In Deutschland wird bei Überreichung des Schecks zur Vorsicht gewarnt, vor der Tür stehen schon die Finanzberater, also die Statistiker". Sagt Schuh mit einem kleinen Lacher in Richtung Eisenberg. Immerhin, fährt er fort, sei eine gute Seite des Zufallsglücks, dass wir es auch für jene akzeptieren, die es nicht verdienen.

In der jüdischen Theologie spreche man von "Fügung", präzisiert Paul Chaim Eisenberg, von "mazal", bei Festen wünsche man sich "masel tov". Das andere sei ein "tieferes Glück"; und große Bedeutung erlange es, wenn jemand einen Mitmenschen glücklich machen könne. Besondere Beachtung indes schenke das Judentum den Unzufriedenen, theologisch gesehen seien sie "im Zweifel darüber, ob Gott gerecht ist".

Da er sich etwas weniger optimistisch nennt, erinnert Franz Schuh an "das Glück, das uns verkauft wird." Der Untertitel seines Buches, "Magazin des Glücks", verweist auf ein Revue-Drehbuch von Ödön von Horváth: Mitten in der Krise katastrophaler Arbeitslosigkeit liegen in einem Haus Zimmer mit je einer eigenen Art von Glück ("Meeresidylle", "Psychoanalyse"…); man geht rein, bezahlt, das Personal streitet untereinander, man geht wieder raus und steht mitten im Unglück. "Eine wunderbare Metapher für die Glücksanpreisungen des Liberalismus".

Intelligente Spieler

In Fortuna schreibt Schuh: "Es ist erstaunlich, wie sehr man in einem Lebenslauf auf Glück angewiesen ist." Im Wort steckt "Lücke", sagt er bei Transflair; in Lebensplänen wie im Brechtschen "Mach nur einen Plan" klaffe die Lücke. Und wie es mit dem Glücksspiel bestellt sei, lasse sich am besten in Joseph Roths Radetzkymarsch nachlesen. Auch heute seien die Spieler so sehr darauf getrimmt und laut Psychologen so intelligent, dass sie es sogar schaffen, sich beim – ihre Sucht behandelnden – Psychologen Geld auszuborgen.

Der Mensch denkt, und Gott lenkt, heißt es im Christentum, sagt Eisenberg. Das jiddische Pendant sei: "Der Mensch tracht [für ‚denken’], und Gott lacht."

Und was ist, wenn wir einen bösen Gott haben, der irgendwo sitzt und sich den Bauch hält vor Lachen, während wir einen Plan nach dem anderen machen, wirft Schuh ein. Dass Gott Böses wünsche, sei im Judentum nicht der Fall; "er lässt nur manches zu", entgegnet Eisenberg. "Es ist ein tiefes theologisches Problem bei den Juden, ob er in der Shoa hätte einschreiten sollen. Drei Rabbiner haben im Ghetto die ganze Nacht darüber debattiert, bis schließlich einer zusammenfasst: Wir sind uns einige, dass wir Gott für das, was hier passiert ist, verurteilen müssen. Da sagt der andere Rabbiner: Ja, wir sind uns darüber einig, aber jetzt gehen wir Morgengebet beten."

Das Gespräch wendet sich ins Spirituelle – und Schuh, der in seinem Buch Fortuna Bertolt Brechts Warnung vor der Religion "Lasst euch nicht verführen!" zitiert, verweist auf Brechts Bemerkung im Arbeitsjournal über den im Exil fundamentalistisch katholisch gewordenen Alfred Döblin: "Der Mann verletzt meine atheistischen Gefühle." Er selbst, sagt Schuh, habe einen Privatbegriff von Religion. "Wir haben im Leben die Erfahrung: Es geht immer weiter. Ich habe die Lungenembolie überstanden, ich habe aber auch die erste Liebe überstanden, die mir das Herz gebrochen hat. Der Glaube an Gott ist so etwas wie die Vorstellung ‚Es kann nicht aufhören’ – wird doch so viel Sinn in all das hineingelegt, dass eine gewisse Gewissheit sich einstellt, es müsse doch mit der Religion etwas haben." Aufgrund seines Studiums sieht Schuh sich als ausgebildeter protestantischer Theologe, denn er hat über Hegel geschrieben. Auf dem Transflair-Podium stellt er dies mit pointierten Reflexionen über eine theologische Geschichtsphilosophie unter Beweis, mit dem Fazit: Nach allem, was der Menschheit geschehen ist, sind wir zwar "kulturell nicht in der Lage auf die Göttlichkeit zu verzichten, aber naiv dürfen wir uns das nicht mehr leisten".

Warum Atheisten?

Falsch verstandene Religion könne sehr gefährlich werden, sagt Eisenberg, vor allem wenn sie von Fundamentalisten betrieben werde, wenn sich Leute von Gott gesendet fühlen, die er sicher nicht gesandt hat. Und erzählt von einem ganz frommen Rabbiner, der seinen Schülern erklärt, dass Gott die Welt geschaffen hat und deswegen die Welt perfekt ist, ja dass es nichts in ihr gebe, das nicht zumindest nützlich ist. Ein aufmüpfiger Schüler fragt: "Wozu hat Gott zugelassen, dass es Atheisten gibt?" Da antwortet der Rabbi schmunzelnd: "Wenn zu dir ein Bedürftiger kommt und Geld verlangt, dann sei ein Atheist und sag nicht gleich, der liebe Gott wird dir schon helfen."

In Fortuna, seinem "Magazin des Glücks", kommt Franz Schuh auf die Hoffnung: "Wer hofft, rechnet damit, der Zukunft nicht ausgeliefert zu sein, sondern etwas von ihr im Griff zu haben." Der Fatalismus hingegen meint er nun, Diderots Jacques der Fatalist zitierend, sei unwiderlegbar. "Er tritt deswegen auf, weil ich nichts hoffe. Bei Kant heißt es ‚was darf ich hoffen’ – und das ist bei Kant eine religiöse Frage."

Zur Hoffnung erzählt Paul Chaim Eisenberg natürlich vom Messias, sodann von zwei orthodoxen Juden, die diskutieren, was sie tun, wenn sie krank sind.
Der Eine will zum Rabbi, mit dessen Segen es ihm gleich besser gehe. Sagt der Andere, er wolle zum Arzt. Antwortet der Erste: "Was, du glaubst an Wunder?"
Nach ausführlichem Hin und Her zwischen Eisenberg und Schuh, nach Reflexionen und Geschichten, Klugheiten und Lachen schließen beide tröstlich. Auf das Leben!, heißt Eisenbergs Buch – "man soll versuchen, es zum Glück zu machen". Und Schuh bringt "eine der schönsten pädagogischen Maximen", Kants Bemerkung, dass das Leben ja eine Entscheidung der Eltern sei, folglich die Eltern dafür zu sorgen hätten, dass das Kind das Leben bejahe.

Anhaltender Applaus für einen ebenso spannenden wie entspannenden Abend.