Im Gespräch
Sehnsucht, Ferne: Das Entdecken der Welt
16.10.2021 / Von Klaus Zeyringer
Michael Hugentobler solo bei Transflair

"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt", lautet das wohl bekannteste, viel gebrauchte Wittgenstein-Zitat. Demnach erweitert jede Entdeckung Grenzen, folglich Sprache. Literatur vermag dies auf so viele verschiedene Arten. Mittels Reisen im Kopf (be)fördert sie Sehnsüchte, Fernweh und Heimweh. Die Reisen der Sprachkunst versetzen auf Walfänger, in die Wüste, in den Dschungel, in Höhen und an Abgründe im konkreten und im übertragenen Sinn, während man auf dem Sofa seinen Sehnsüchten nachhängt.

Am 73. Abend der Reihe "Transflair" musste der zweite Autor dem Podium fernbleiben. Franzobel war von einer Krankheit ins Bett gezwungen. Es war erst der vierte Ausfall seit der ersten Folge, die 2004 Peter Stamm und Daniel Kehlmann ins Gespräch gebracht hatte: statistisch immerhin ein geringer Prozentsatz.

Nun saß also Michael Hugentobler mit dem Moderator auf der Bühne. Und füllte sie mit seinen Worten und seinem faszinierenden Roman ganz aus. Über das - in Kooperation mit der Schallaburg-Ausstellung gewählte - Thema "Sehnsucht, Ferne: Das Entdecken der Welt" wusste er gewitzt zu erzählen und zu lesen. Der 1975 in Zürich geborene Schriftsteller war nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den USA zur Schule gegangen, nach deren Abschluss dreizehn Jahre auf Weltreise, während der er Notizbücher füllte, Geschichten aufschrieb. Für die Neue Zürcher Zeitung, Das Magazin u.a. verfasste er Reportagen, etwa über die Hazda, die afrikanischen Sammler und Jäger. Bis Hugentobler 2018 seinen ersten Roman publizierte: Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte dreht sich um den Schweizer Hans Roth, der Ende des 19. Jahrhunderts als Louis de Montesanto mit seiner Autobiographie in London sensationell Aufsehen erregte und einen Bestseller landete. Dreißig Jahre habe er in Australien bei den Aborigines gelebt, flunkerte der Hochstapler. Erst nach seiner Rede in der Royal Geographical Society kam es zum Eklat.

Vor den Nazis retten

Michael Hugentoblers dieses Jahr bei dtv erschienener Roman Feuerland steht auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Erneut führt uns der gewiefte Erzähler in die zeitliche Ferne. 1886 wird ein englischer Junge namens Thomas Bridges von einem Missionarspaar adoptiert und zieht mit ihnen an die Südspitze von Patagonien. Dort freundet er sich mit den indigenen Yamana an, notiert fasziniert deren Ausdrücke, lernt ihre Sprache und schafft ein Wörterbuch der ganz besonderen Art - eine Grenzverschiebung seiner Welt. An dieses einzigartige Konvolut gelangt in den 1930er Jahren der deutsche Völker- und Sprachkundler Ferdinand Hestermann und will es vor den Nazis retten. Beide Hauptfiguren des höchst originellen Romans sind besessene Humanisten, getrieben von einer Sehnsucht nach Wissen und Sprachen.

Ob es tatsächlich eine Weltreise von dreizehn Jahren gewesen sei, wie es in Verlagsankündigungen steht? "Ja, das stimmt, das war so", sagte Michael Hugentobler auf dem "Transflair"-Podium. Er ist tatsächlich mehrmals um die ganze Welt gereist. Erst mit 34 Jahren kam er wieder in die Schweiz zurück, und nun, da er Vater von zwei Kindern sei, "ist es ruhiger geworden". Er sei davon überzeugt, dass "unsere Vorfahren unser Leben auf gewisse Weise bestimmen" - schon seine Altvorderen hatten sich in andere Länder, manche weit weg, bewegt. Das Fernweh muss offenbar in der Familie liegen. Mit Geschichten wie jene von der Großtante, die ein Stück Land im brasilianischen Dschungel gekauft und später in einem Altersheim im australischen Tasmanien gelebt habe, sei er aufgewachsen. "Meine Großmutter hat mir einmal ein Foto gezeigt von einem Mann mit Schnauzbart und Turban, der in einem indischen Kanu saß, und hat gesagt: Das ist dein Onkel." Im Kopf, sagte Hugentobler, habe eben seine Weltreise schon sehr früh begonnen.

Und der erste Roman? "Louis, das bin eigentlich ich." Wenn das so sei, dürfe man ihm nichts glauben, denn Louis ist ein Flunkerer. "Ich will damit nicht sagen, dass ich ein Flunkerer bin, sonst könnte ich nicht als Journalist arbeiten. Meine Romane sind Fiktion, sie fußen auf der Wahrheit, aber die Charaktere haben ein Eigenleben. Die Eigenschaften, die ich ihnen andichte, das bin dann zu einem gewissen Teil ich."

Wie kommt man an so einen historischen Stoff wie für Feuerland, was reizt daran? Am Ende des Romans steht ja eine "Anmerkung", wie der Autor zur Geschichte, eigentlich die Geschichte zum Autor gekommen sei. Aber es scheint nicht sicher, ob hier der Autor Michael Hugentobler oder der Erzähler des Prosawerkes am Wort ist.

Halb er, halb ich

"Ja, das ist ganz seltsam, denn es gibt einen Erzähler, der nicht im Jetzt lebt, sondern vielleicht in den fünfziger, sechziger Jahren, er hat eine leicht alte Sprache - ich wollte einen sonderbaren Ton, ohne dass er antiquiert wirkt. Bis heute aber habe ich nicht herausgefunden, wer dieser Erzähler ist. In der 'Anmerkung' ist es halb er, halb ich. Aber der Inhalt stimmt. Die Geschichte erfuhr ich 2001 in Argentinien, auf der Fahrt in den Süden, nach Feuerland." Ein Mann, der ihn im Auto mitgenommen hatte, sagte in der Dunkelheit des Nachtlagers, beim Funkenflug des Feuers: "Guten Abend, Herr Missionar". Und erzählte die Geschichte vom Missionar, der die Wörter der Yamana aufschreibt und ihre Bedeutung erklärt, dem das Buch gestohlen wird, und der nach wie vor als Geist durch Patagonien huscht, auf der Suche nach seinem Buch.

Also hat Michael Hugentobler zwanzig Jahre mit dieser Geschichte gelebt, bevor er sie im Roman publiziert hat. "Ja, ich lebe noch mit ganz anderen Geschichten. Das Problem war: Ich wusste nicht, wie man Bücher schreibt. Ich versuchte es immer wieder, aber es ging nicht." Warum er dann zuerst Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte verfasste? "Der ist eben auch schon sehr lange in meinem Leben. Und meine Großtante ist noch viel länger in meinem Leben." Auf die Frage nach Recherchen für Feuerland erzählte Hugentobler, wie das Yamana-Wörterbuch auch Hestermann gestohlen worden sei, nun in der British Library liege, und wie er es dort eingesehen und Teile notiert habe.

Nachdem Michael Hugentobler zwei Hestermann-Kapitel gelesen hatte, sagte er auf die Frage nach den Recherchen für den Roman: "Ich könnte niemals über einen Ort schreiben, den ich nicht kenne." Allerdings sei er nach 2001 nicht nochmal nach Patagonien gereist, er habe jedoch Notizen auf tausenden Seiten vorliegen.

Aber auf Feuerland hatte es wohl 1886 nicht so ausgesehen wie heute. "Das stimmt. Wenn man jedoch genau liest, sind es hauptsächlich Natur-Sinneseindrücke. Sehr oft der Wind, und der hat sich wahrscheinlich nicht verändert, auch die Berge nicht. Daran habe ich mich zu halten versucht." Der Ausgangspunkt waren also die auf der Fahrt zum Südzipfel Patagoniens gehörte Geschichte vom Missionar und die Recherchen. Gab es zudem noch Einflüsse, Vorbilder?
"Ja, eines meiner Lieblingsbücher ist Herz der Finsternis von Joseph Conrad, da ist der Bösewicht ein Colonel Kurtz, den habe ich in meinen Roman als Lobby-Boy bei den Nazis eingebaut. Bei Conrad sind seine letzten Worte 'the horror, the horror', bei mir sagt er 'grauenhaft, grauenhaft'."
Wie bei Joseph Conrad erscheint Feuerland als Wechselbad zwischen Fakten und Fiktion. "In meinen Romanen nehme ich mir in Bezug auf die historischen Fakten viele Freiheiten, dafür wurde ich auch angegriffen. Ob man das dürfe, wurde in der Schweiz in einem langen Podcast diskutiert. Es ist eine seltsame Frage, finde ich, denn so gehen Erzähler vor, seit Herodot seine Historien geschrieben hat." Als Journalist hingegen halte er sich skrupellos an die Wahrheit.

Reportagen sind stark an Fakten gebunden, da lässt sich den Sehnsüchten nachreisen; Literatur vermag wohl besser den Sehnsüchten nachzugehen, nachzugeben? "Man kann in der Literatur besser mit den Sehnsüchten spielen, mit den Sehnsüchten des Lesers und der Leserin, indem man sie überspitzt. Das mache ich sehr gerne, und das funktioniert nur im Roman", sagte Michael Hugentobler. Reportagen entdecken eine äußere Welt, Romane zudem eine innere Welt? "Eine metaphysische zumindest. Romane zu schreiben, ist viel aufwendiger, es ist viel mehr Zweifel da, es ist ein größerer Kampf. Aber es ist befriedigender."

Inversion für Spannung

Die wesentlichen Fragen dabei sind zunächst die Erzählperspektive und der Aufbau. Feuerland besteht aus zwei Teilen, der erste spielt in den 1930er Jahren, der zweite Ende des 19. Jahrhunderts; der zweite schildert die Ursache, der erste die Wirkung. Warum diese Inversion? "Warum ich das umgedreht habe? Ich habe die Tendenz, wenn ich fertig bin, alles auseinander zu reißen und neu aufzubauen. Ich finde, das tut meinem Text gut. Die ursprüngliche Struktur des Romans war eine abwechselnde, ein paar Kapitel Hestermann, ein paar Kapitel Bridges, und so getaktet, dass es immer schneller ging." Der endgültige Aufbau bewirkt nun, dass man bei der Lektüre des ersten Teils immer neugieriger wird, wie es zu diesem ungewöhnlichen Wörterbuch kam, was da drinnen steht. "Das habe ich gehofft."

Zum Abschluss las Michael Hugentobler - zum ersten Mal, "ich habe nicht geübt" - das Kapitel, in dem sich Thomas Bridges in Feuerland mit den Yamana und ihrer Sprache anfreundet. Mit seinen Romanen und seinem Auftritt beweist Hugentobler eindrucksvoll, dass er schon wahrlich weiß, wie er faszinierende Literatur schreiben kann. Anhaltender Applaus.